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Architektur braucht neue Orientierung!

30. Juni 2020

Seien wir ehrlich: Die Architektur steckt seit vielen Jahren in einer Krise. Neue, wegweisende und große Ideen etwa wie das Bauhaus vor 100 Jahren sind derzeit kaum in Sicht. Die Gründe dafür sind vielfältig und sicherlich auch in der marktfokussierten Zeit zu suchen. Umso wichtiger wäre ein ernsthafter Diskurs über die Relevanz der Arbeit der Architekten – gerade jetzt, denn wie alle Krisen hat auch die Corona-Krise das Potenzial zu tiefgreifenden Veränderungen.

Von Thomas Geuder

 

Als Architektur-Journalist hat man doch meist nur die vorzeigbaren Beispiele auf dem Bildschirm. Die Profession verlangt es meist eben so: Nur über die guten Bauprojekte wird berichtet. Das muss nicht der schlechteste Weg sein, denn irgendwie ist man als Multiplikator doch auch Optimist und hebt Vorbilder gerne hervor. Wer allerdings mit offenen Augen durch unsere Städte und Dörfer läuft, wird schnell feststellen, dass sich die gebaute Realität mitunter stark von dem unterscheidet, was in Hochglanz-Fachmagazinen zu sehen ist. Dass es diese Diskrepanz zwischen kommunizierter und gebauter Realität gibt, ist zunächst freilich vollkommen in Ordnung. Schließlich geht es beim Diskurs über Architektur nicht darum, argwöhnisch mit dem Finger auf andere zu zeigen. Im Gegenteil: In der Architekturszene herrscht vornehmlich ein Klima des Voranbringens der eigenen Profession, mit festem Blick in die Zukunft. Am Ende arbeiten alle an einer besseren Zukunft für den Menschen. Und das ist gut so.

 


In der chinesischen Ortschaft Sanjia wurde ein Lern- und Spielhaus für Kinder durch einen eingeschossigen Neubau ergänzt, dessen Tragstruktur aus einem hochleistungsfähigen Bambus-Verbundbaustoff besteht.
Architektur: Mu Wei, Advanced Architcture Lab (AaL); Zhou Chao, Atelier UPA
© Foto: Arch-exist photography - aus der Ausstellung „Chinas neue Architektur“ in der Raumgalerie Stuttgart

 


Bei dem Micro-Hutong genannten Umbau wurde in einen besonders engen Hof ein skulpturales Betongebilde aus Räumen platziert.
Architektur: Zhang Ke, ZAO/standardarchitecture
© Foto: CreatAR Images / Luo Juncai - aus der Ausstellung „Chinas neue Architektur“ in der Raumgalerie Stuttgart

 

 

Versuche der Neuerung
Dennoch: Der Ruf nach einer neuen Orientierung der Architektur wird immer lauter. Eine der Forderungen, die man derzeit häufig hört, ist die einer grünen Architektur, die rücksichtsvoll mit der Umwelt umgeht, Ressourcen schont und mit Energie sinnvoll umgeht. Denn man darf nicht vergessen: Das Bauen ist mit seiner CO2-Emission nach wie vor einer der größten Mitverursacher der Klimakrise. Vor diesem Hintergrund verwundert es immer wieder, wenn Gebäude einfach abgerissen und durch neue ersetzt werden, ohne zu hinterfragen, wie viel graue Energie dabei verloren geht und wie Orte ganz nebenbei ihrer Identität beraubt werden. Die Stadt Stuttgart etwa ist Meister darin: Der Abriss des 1928 erbauten, architektonisch wegweisenden Kaufhaus Schocken des Architekten Erich Mendelsohn im Jahr 1960 hat sich tief ins Gedächtnis der Bürger eingegraben. Gleich zwei wichtige Bauten des Architekten Hans Kammerer traf es jüngst ebenfalls: Die 1977 erbaute Hauptverwaltung des EVS und die 1978 erbaute Calwer Passage. Beispiele aus anderen Städten gäbe es zuhauf.

 


In einem Hutong ist eine Bibliothek und ein Kreativraum für die Kinder der dort wohnenden Familien aus den typischen graubraunen Ziegeln entstanden.
Architektur: Zhang Ke, ZAO/standardarchitecture
© Foto: Su Shengliang - aus der Ausstellung „Chinas neue Architektur“ in der Raumgalerie Stuttgart

 


Die Dächer des bei einem Erdbeben zerstörten und wiederaufgebauten Dorfs Jintai können zusätzlich für den Anbau von Gemüse verwendet werden.
Architektur: John Lin, Joshua Bolchover, Rural Urban Framework
© Foto: Rural Urban Framework (RUF) - aus der Ausstellung „Chinas neue Architektur“ in der Raumgalerie Stuttgart

 

 

Relevanz von Architektur
Auffällig ist, dass vor allem 40 bis 50 Jahre alte Bauwerke vom Abriss bedroht scheinen. Ihr Problem: Sie sind schlicht noch nicht alt genug, um als Denkmal wahrgenommen zu werden und sich so ins baugeschichtliche Gedächtnis einer Stadt einzubrennen. Oder schmälert die derzeitige marktorientierte Zeit gar die Relevanz von Architektur? Womöglich, denn eins ist klar: Den universellen Baumeister, der der Architekt vor 100 Jahren noch war, gibt es heute im Grunde nicht mehr. Längst haben Projektentwickler und Generalunternehmer das Ruder in die Hand genommen. Die Hoheit über das architektonische Endergebnis ist damit vom gestaltungsgeprägten Generalisten zum marktgetriebenen Player übergegangen. Das hat in der Folge immer mehr dazu geführt, dass der Architektur der Sinn und die Orientierung verloren ging und sie immer weiter in eine Krise stolperte.

 

Die Produktionsbauten einer ehemaligen Zuckerfabrik wurden zu dem Luxushotel Alila Yangshuo umgebaut und durch Gebäude aus schalungsrauem Sichtbeton und perforierten Wänden aus Hohlstein ergänzt.
Architektur: Gong Dong, Vector Architects
© Foto: Vector Architects, Chen Hao, Su Shengliang - aus der Ausstellung „Chinas neue Architektur“ in der Raumgalerie Stuttgart

 


Trotz lediglich 1,80 m Breite entsteht in dem Wohnhaus in Tokio ein erstaunlich großzügigen und offenes Wohngefühl.
Architektur: YUUA Architects & Associates
© Foto: Toshihiro Sobajima, Tokio - aus der Ausstellung „Kleine Raumwunder“ in der Raumgalerie Stuttgart

 

 

Architektur neu denken
Krisen aber haben das Potential zu Veränderungen. Vor allem die derzeitige Corona-Krise, in der alle zum Innehalten und Nachdenken gezwungen sind. Dabei helfen kann ein Blick über den Tellerrand. Etwa auf die Arbeit des chilenischen Architekten Alejandro Aravena, der 2016 den Pritzker-Preis erhielt und der mit seinen Entwürfen, die einen starken sozialen Bezug herstellen, weltweit große Beachtung fand, was von nicht wenigen sogar als architektonische Trendwende wahrgenommen wurde. Oder auch der indische Architekt Balkrishna Doshi, dessen Leistung 2018 mit dem Pritzker-Preis gewürdigt wurde. Seine Bauten zeigen eindrucksvoll, wie der richtige Umgang mit Raum und Material zu einer virtuosen, menschenfreundlichen Architektur führen kann. Überhaupt: Der inspirative Blick nach Fernost hat sich für die europäischen Architekten schon immer gelohnt. In Japan und China gibt es abseits der Stahl-Glas-Hochhaus-Kolosse eine quirlige Szene, die die architektonische Gestalt, Form, Raum und Material neu denken. Die Zeit für Innovation war also nie besser. Deshalb, liebe Bauherren und Architekten: Seid mutig und traut euch, neue Wege zu gehen!

 


Ein zentraler Luftraum mit öffenbarem Oberlicht zieht sich in einem Wohnhaus im japanischen Kobe durch alles Stockwerke und fungiert als Lichtkamin.
Architektur: fujiwarramuro architects
© Foto: Yano Toshiyuki, Tokio - aus der Ausstellung „Kleine Raumwunder“ in der Raumgalerie Stuttgart

 

 
Das Indian Institute of Management in Bangalore aus dem Jahr 1963 von Balkrishna Doshi gehört zu einem seiner wichtigsten Bauten.
© Foto: Sanyam Bahga / Wikipedia

 


Die Arbeit des Architekten Alejandro Aravena, die 2016 mit dem Pritzker-Preis gewürdigt wurde, stellt immer einen starken sozialen Aspekt her. Im Bild: Wohnsiedlung Quinta Monroy, Iquique, Chile
© Foto: Cristobal Palma / Elemental

 

 

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